Seit mehr als einem Jahrzehnt ist Olivier Senn Direktor der Tour de Suisse. In den vielen Jahren hat er viele Highlights erleben dürfen, aber auch einige der herausforderndsten Momente seines Lebens erfahren müssen. Wir konnten mit dem Aargauer sprechen und geben so einen ganz speziellen Einblick hinter die Kulissen des grössten jährlich durchgeführten Sportanlass der Schweiz.
1. Die Tour de Suisse, wohl einer der grössten Radsportanlässe Europas steht kurz bevor. Sind Sie schon nervös?
Nein, nervös nicht. Aber die Anspannung steigt, weil jetzt langsam alle Puzzleteile zusammengefügt werden müssen. Und noch ist nicht ganz alles finalisiert.
2. Welches werden dieses Jahr die Höhepunkte der Tour sein?
Die beiden Wochenenden werden sicher sehr spannend und intensiv. Am ersten Wochenende in Küssnacht, wo die Frauen ihren Abschluss finden und die Männer starten, aber natürlich auch das Schlusszeitfahren von Beckenried auf die Stockhütte, etwas ganz spezielles.
3. Einen solchen Anlass zu organisieren ist eine Anforderung auf sehr hohem Level. Welches sind Ihre Erfolgsfaktoren?
Für mich sind zwei Punkte entscheidend: das bestmögliche Team, welches sowohl fachlich wie auch menschlich zusammenpasst und Höchstleistungen erbringen kann, sowie die langfristige Planung. Je mehr Vorlauf wir haben bei Etappenorten und Sponsoren, je „einfacher“ ist die Planung und Vorbereitung.
4. Das Thema Sicherheit wird immer aktueller. In vielen Sportarten, jüngst auch im Skizirkus mehren sich die Unfälle und leider auch die Todesfälle. Wo ist die Grenze des sinn- und machbaren?
Wir müssen uns alle im Klaren sein, dass gewisse Risiken bestehen, welche nicht eliminiert werden können. Wir versuchen die Risiken so gut als möglich einzuschätzen und Massnahmen umzusetzen, um die Auswirkungen von Unfällen so gering wie möglich zu halten. Es braucht aber alle Beteiligten (Athleten/Innen, Teams, Weltverband, Fahrradindustrie und Veranstalter) um die Sicherheit wirklich zu erhöhen. Dazu gehören auch Diskussionen um kontroverse Massnahmen, welche den Sport grundlegen verändern würden. Diese können jedoch wir als Veranstalter nicht alleine führen, dazu braucht es alle Stakeholder am gleichen Tisch.
5. Früher war die Tour de Suisse ein Volksanlass, gross und klein begeisterten sich dafür. Man musste nicht mal Velo-Fan sein, die Tour de Suisse war ein Thema. Wie ist das heute?
Entlang der Rennstrecken, in den Dörfern und Tälern ist das sicher noch immer so. Es ist sehr schön zu sehen, wenn Schulen, Firmen, Altersheime und Restaurants leer sind und die Leute an der Strasse stehen. Hier spielt natürlich auch der FanConvoy eine wichtige Rolle, welcher mit kleinen Goodies v.a. auch die Kinder an die Strasse lockt.
In den Start- und Zielbereichen hat sich die Situation in den letzten Jahren / Jahrzenten sicher dahin entwickelt, dass wir mehr bieten müssen als nur den Sport. Die Leute wollen unterhalten werden. Das ist bei einem „Wanderzirkus“ wie die Tour de Suisse nicht ganz einfach, wir arbeiten aber stetig daran, diesen Aspekt auszubauen.
6. Ein Wort zur Machbarkeit: alle grossen Anlässe müssen durch Sponsoren, TV-Rechte gestützt werden, sonst würden viele wohl nicht mehr stattfinden können. Wie sieht das bei der TdS aus?
Das ist auch bei der TdS so. Wir finanzieren uns insbesondere von Sponsoren, von den TV-Rechten sowie den Etappenortgebühren. Wir erhalten keine direkte finanzielle Unterstützung von Kantonen, Tourismus oder den Lotteriefonds, indirekt jedoch natürlich über Etappenortgebühren. Es ist aber jedes Jahr eine grosse Herausforderung, das Gesamtbudget von knapp 9 Mio. zusammenzubringen.
7. An Ihrem Anlass ist die Elite des weltweiten Radsports vertreten. Besser geht nicht. Empfinden Sie Ehrfurcht vor dieser Kulisse?
Ehrfurcht ist wohl der falsche Ausdruck. Wir organisieren eine der besten Veranstaltungen im Radsport und haben die besten Fahrer/Innen am Start. Das ist ein Zusammenspiel und auch eine Zusammenarbeit mit den Teams und Fahrer/innen, die man nach vielen Jahren auch gut kennt.
8. Sie sind seit 12 Jahren Direktor der TdS. Seit 1933, damals zum 50jährigen Bestehen des SRB (Schweizer Radfahrerbundes) wird die TdS ausgetragen. Wie würden Sie die wesentlichsten Veränderungen in diesen knapp 100 Jahren beschreiben?
Leider zu wenige… Sportlich machen wir quasi noch das gleiche wie vor 100 Jahren und das ist nicht mehr zeitgemäss. Wir müssen und wollen neue Formate kreieren, welche für die Zuschauer interessanter sind, insbesondere für jüngere Generationen. Aber der Weltverband hängt hier noch viel zu stark an den Traditionen…
Ausserhalb des Sports sind wir deutlich näher bei den Zuschauern, geben Ihnen viel Hintergrundinformationen und die Möglichkeit, mit den Athleten/Innen in Kontakt zu treten und sich digital auch mit ihnen zu messen. Und natürlich kann die TdS in über 140 Ländern live am TV verfolgt werden, was auch für unser Land eine sehr schöne Visitenkarte abgibt.
9. Ist die TdS Volkswirtschaftlich ein wichtiger Faktor?
In den Regionen der Etappenorte kreieren wir sicher einiges an Umsätze, insbesondere mit gegen 1000 Hotelbetten, welche wir täglich buchen. Zudem geben wir Geld für Infrastruktur, Verpflegung und Personal aus.
10. Wenn Sie einem Laien raten müssten: wo könnte er die TdS am besten verfolgen?
Radsportfans kommen am Start auf ihre Kosten, weil sie dort nahe an die Teams und Athleten kommen. Hier kann man bei den Teambussen vorbeischauen, Autogramme abholen und das Startprozedere verfolgen.
Alternativ sind natürlich auch Aufstiege spannend oder Zielankünfte, insbesondere dort, wo mehr als einmal beim Ziel vorbeigefahren sind.
Laien, welchen v.a. das Eventerlebnis haben möchten wird an den Zielorten am meisten geboten. Nebst der Zieleinfahrt gibt es die Fan Zone, Verpflegung und Unterhaltung.
Und für alle, welche nicht vor Ort sein können, wird die TdS am TV auf SRF oder online im Stream übertragen.
11. Eigentlich ist es sehr schade, dass seit vielen Jahren kein Schweizer mehr die TdS gewinnen konnte.
Ja, das ist natürlich so, wobei Marlen Reusser ja vor zwei Jahren die TdS Women gewonnen hat. Aber es messen sich die besten der Welt, da gibt es kein Wunschkonzert.
Ich habe aber grosse Hoffnung, dass in den nächsten Jahren wieder ein Schweizer zuoberst auf dem Treppchen steht, da einige potenzielle Siegfahrer bereitstehen.
12. Wie sieht die Tour de Suisse in 10, 20 Jahren aus?
Das ist extrem schwer vorhersehbar, insbesondere weil sich die Rahmenbedingungen immer schneller verändern. Wir sehen Herausforderungen insbesondere bei den Streckensperrungen und bei der Finanzierung.
Gut möglich, dass vermehrt auf kürzeren Rundkursen gefahren werden muss, weil diese einfacher zu sperren sind als lange Überlandetappen. Aber solange wir es schaffen, das ganze Land mit der TdS zu durchfahren, werden wir das natürlich machen!
Zur Person
Olivier Senn ist seit 12 Jahren Direktor der Tour de Suisse und eine der einflussreichsten Personen im Schweizer Radsport. Der 55-jährige Aargauer ist an der Firma Cycling Unlimited (der Trägerschaft der Landesrundfahrt) beteiligt und in verschiedenen Bereichen tätig. Olivier lebt mit seiner australischen Frau und den vier Kindern in Gansingen im Kanton Aargau.
Velomarkt.ch freut sich, auch im Jahr 2025 wieder als Medienpartner der Tour de Suisse dabei zu sein.